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Die »Löwin« vom Kurfürstendamm

Marga Schoeller
Die »Löwin« vom Kurfürstendamm

Vorgestellt von Ruth Klinkenberg

Schon als angehende Buchhändlerin im Ruhrgebiet war mir, wenn auch etwas
vage, der Name der Marga Schoeller Bücherstube ein Begriff. Ihr ging, wie zum
Beispiel auch der Buchhandlung Felix Jud in Hamburg, der Ruf voraus, eine
bedeutende literarische Buchhandlung zu sein; ein Ruf, der in besonderer
Verbindung mit seiner Inhaberin stand. Als ich mich entschloß, nach Westberlin zu
ziehen, versuchte ich zunächst, eine Stelle bei Schoeller zu bekommen. Da war
allerdings im April 1969 nichts frei. Erst einige Jahre später, als ich Schoeller längst
nicht mehr nur dem Namen nach kannte, kam es tatsächlich zu einer Anstellung.
Das war 1972. Daß ich im Jahr 2001 immer noch da sein würde, seit einiger Zeit als
Mitgeschäftsführerin, das war damals nicht abzusehen.
Marga Schoeller, verheiratete Rodig, wurde 1905 im rheinischen Düren als Tochter
eines Papierfabrikanten geboren. Sie war eine unternehmungslustige junge Frau,
die in München eine Ausbildung beim Langen-Müller-Verlag absolvierte, dort viele
Freunde fand und diese Zeit in einem späteren Fernsehinterview zu den schönsten
Abschnitten ihres Lebens zählte. Sie ging anschließend nach Berlin, arbeitete
zunächst in einem Zeitschriftenverlag (»grausig« und »häßlich« – so ihre eigenen
Worte) und verliebte sich in eine ganz kleine Buchhandlung am Kurfürstendamm,
eine Filiale der angesehenen Buchhandlung Buchholz. Den Eltern gefiel die Idee
ihrer Tochter, sich selbständig zu machen, und sie gaben ihr das Geld für den
Laden am Kurfürstendamm 30. So entstand im Jahr 1929 die Marga Schoeller
Bücherstube.
Bald trafen sich dort Schriftsteller und Schauspieler, Professoren und Studenten:
fast die gesamte »Anti-Nazi-Intelligenz« der Stadt, wie Marga Schoeller es selbst
formuliert hat. Wie es mit der Literatur und den Büchern in dieser Zeit bestellt
war, ist ja bekannt. Die Bücher, die Marga Schoeller verkaufen wollte, waren bald
nicht mehr zu bekommen, wurden verbrannt oder verboten. Deshalb stellte sie in
der Buchhandlung Bilder eines bekannten Pferdephotographen aus, die sich sogar
zu guten Preisen verkaufen ließen. Und für einige Kunden gab es immer wieder
verbotene Bücher aus einem geheimen Keller.
Nach dem Krieg war sie die erste Buchhändlerin in Berlin, die lizensiert wurde,
erst von den Russen, nach der Einrichtung der britischen Besatzungszone dann
auch von den Engländern. Bücher waren rar und wurden von ihr teilweise im
Tauschgeschäft von im Ausland lebenden Freunden erworben, Einkaufs- und
Auslieferungsfahrten innerhalb der Stadt erledigte sie selbst mit dem Fahrrad.
Schon früh fand ihre anglophile Neigung ihren Niederschlag in der Gründung einer
englischsprachigen Abteilung, die übrigens auch für die heutige Buchhandlung
immer noch ein wichtiges Standbein ist. Kontakte zu englischen Verlegern wurden
damals von ihr noch persönlich gepflegt, beispielsweise auf der Frankfurter
Buchmesse.
Bald nach dem Krieg wurde die Marga Schoeller Bücherstube wieder zu einem
Zentrum des geistigen Berlin. In einem kleinen Gästebuch aus den Jahren 1930 bis
1965, das wir heute wie einen Schatz hüten, haben sich zahlreiche Kunden,
Autoren und Schauspieler eingetragen: Thornton Wilder, Ingeborg Bachmann, Max
Frisch, Christopher Isherwood, Aldous Huxley, Henry Miller, Elias Canetti, Erich
Kästner, Bertolt Brecht, Robert Musil, Jean Cocteau, die Maler George Grosz, Rudolf
Schlichter, Alfred Kubin, Lazlo Moholy-Nagy, der Bildhauer Henry Moore … Sie und
viele andere bedeutende Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts haben Marga
Schoeller und ihre Buchhandlung immer wieder als Kunden und Freunde besucht.
Auch Arnold Zweig, Bertolt Brecht und andere bekannte Personen aus Ostberlin
gehörten vor dem Bau der Mauer zu Marga Schoellers Kunden. Dies führte
schließlich zur Drohung von Westberliner Stadtbüchereien, nicht mehr bei
Schoeller einzukaufen. Er herrschte der Kalte Krieg …
Später, anläßlich eines Treffens der Gruppe 47 in Berlin gab es am 28. Oktober
1962 einen Empfang für die Teilnehmer in ihrer Buchhandlung. Eine erhaltene
Photographie zeigt Marga Schoeller im Gespräch mit Günter Grass und Peter
Weiss.
Es läßt sich heute nicht mehr feststellen, wer ihr wann den Spitznamen gegeben
hat, mit dem sie ihre engsten Freunde anredeten: »Löwe« (nicht: »Löwin«!).
Geblieben ist aus dieser Zeit jedenfalls das Firmensignet der Marga Schoeller
Bücherstube: der auf einem Sessel sitzende, lesende Löwe, den ihr der Klee- und
Kandinsky-Schüler Hans Thiemann gezeichnet hat.
Mit dem Buchangebot und der Stammkundschaft wuchs auch die kleine
Bücherstube. Gleich nebenan kam ein weiterer Laden hinzu, später dann die
Räume im ersten Stock, unter anderem einer für die englische Abteilung. Der
Religionswissenschaftler Professor Klaus Heinrich, Stammkunde der
Buchhandlung seit seiner Jugend, hat diese Expansion so beschrieben: »Wo die
Weltausstellung ein ganzes Gelände braucht, Stadtviertel verschlingt oder zu ihrem
Zweck neu entstehen läßt, tut es hier der Fuchsbau: die Röhre, die Höhle. Die Höhle
vergrößerte sich zu einem komplizierten Bau: der Laden jenseits des Durchgangs,
der nun in eine Bücherpassage verwandelt wurde, kam ebenso dazu wie die
Wohnung darüber, Fehlings Treppe geleitete den Lesenden hoch, er konnte sich
ans Fenster setzen über den Flanierenden, er konnte weiterwandeln in den
Rittersaal.« In dem schon genannten Fernsehinterview aus dem Jahr 1973 hat sie
diese Entwicklung, die ihr persönlich nicht mehr so ganz gemäß war, nachdenklich
beschrieben. Ihr lag viel an dem direkten persönlichen Kontakt zu ihren Kunden in
einer eher intimen Atmosphäre. Mit ihrer ureigenen Mischung aus Fürsorge und
Geschick verstand sie es immer, Mißgeschicke auszubügeln. Wenn etwa ein fest
versprochenes Buch wider Erwarten nicht rechtzeitig eintraf, rief sie den Kunden
an (damit er nicht umsonst kommen mußte) und erschreckte ihn erst einmal mit
dem Ausruf: »Ach, Sie Unglücksvogel!«
Wie viele Buchhändlerinnen und Buchhändler verstand sich Marga Schoeller eher
als Traditionalistin, was sie nicht daran hinderte, auch eine neue Generation von
Kunden mit anderen Vorstellungen aufgeschlossen bei sich zu begrüßen – dies vor
allem während der Studentenbewegung, als sich das Sortiment der Buchhandlung
auf die kritische Jugend einstellte. Rudi Dutschke, Fritz Teufel und fast die gesamte
APO-Prominenz zählten nun auch zu den Stammkunden. Es kam in dieser Zeit vor,
daß sich ein Polizist vor dem Laden postierte und die Titel der im Schaufenster
ausgestellten Bücher aufnotierte.
Marga Schoellers enges Verhältnis zu ihren Kunden fand seine Entsprechung im
Umgang mit der wachsenden Zahl ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – einer
bunten Mischung verschiedenartigster Menschen mit teilweise großen
Eigenwilligkeiten, unter ihnen Harry Rowohlt und einer der einflußreichsten,
späteren Mitarbeiter der Berlinale, Manfred Salzgeber, denen sie nicht immer, aber
meistens tolerant und offen gegenüberstand. Es konnte sogar vorkommen, daß sie
einen Mitarbeiter, der Mühe hatte, morgens aufzuwachen, telefonisch weckte. Nie
vergaß sie einen Geburtstag ihrer Angestellten. Neben mündlichen Glückwünschen
gab es dann eine Karte, auf der geschrieben stand: »Gut: ein Buch.« Das
Geburtstagskind konnte sich dann selbst ein Buch als Geschenk aussuchen.
Auch in diesen Jahren war ihre Buchhandlung Anlaufort für alle, die ein
anspruchsvolles Literaturangebot suchten, für Schauspieler, Studenten und die
heutigen Verleger Arnulf Conradi, Michael Krüger oder Klaus Wagenbach: die
akademische Intelligenz Westberlins – Schoeller war zu dieser Zeit eine
Buchhandlung, die durch den sehr persönlichen Führungsstil ihrer Besitzerin ein
unverwechselbares Flair hatte.
Als die Buchhandlung 1974 in eine Nebenstraße des Kurfürstendamm umziehen
mußte, gab es eine spürbare, aber leider vergebliche Empörung bei den Kunden
und in der Presse. Professor Heinrich hat auch diesen schmerzlichen Einschnitt in
die Firmengeschichte beschrieben: »Es traf sie hart, als sie ihr Reich verlassen
mußte, das noch vor dem Nazistaat gegründete, die erste Buchhandlung auf dem
Boulevard des westlichen Vergnügungsviertels der Stadt, und die Gastronomie
dort einzog. Aber der Geist wandelte mit, und die Besuche waren am neuen Ort die
alten. Sie war ein Zentrum dieser Stadt, eins von denen, die sich ihrer
Provinzialisierung entgegensetzten und ihrer Las-Vegaisierung auch dann noch
trotzten, als sie ihr weichen mußte.« Mit dem Laden am Kurfürstendamm
verschwand auch die berühmte Passage. 1960 konnte Peter Szondi in einem Brief
Paul Celan noch mitteilen: »Hier in Berlin hing die NZZ-Sache zehn Tage lang im
Schaufenster der besten Buchhandlung (Marga Schoeller).« Später klagte der
Verleger Klaus Wagenbach: »Ja, ja, den großen (auch im Winter geheizten!)
Hausflur der alten Schoeller Bücherstube mit dutzenden von Rezensionen und so
vielen anderen nützlichen Hinweisen, es gibt ihn nicht mehr.«
Marga Schoeller betrieb den unvermeidlichen und riskanten Umzug noch mit
großem Elan. Zu dieser Zeit war es ein Wagnis, vom Kurfürstendamm in eine
Nebenstraße zu ziehen, denn noch hatte die Knesebeckstraße nicht den Ruf der
»Buchhandelsmeile«. Aber ihre Stammkunden folgten ihr bereitwillig. Nach dem
Umzug wuchs in ihr der Wunsch, das ihr die Aufgabe, den Laden zu führen,
abgenommen würde. Die Umwandlung in eine GmbH und die Übernahme durch
ein Kollektiv, dem ihr Sohn angehörte, der schon viele Jahre in der Buchhandlung
arbeitete, hat sie selbst noch mit vorbereitet. Vollzogen wurde diese Umwandlung
allerdings erst nach ihrem Tod. Sie starb 1978.
Als ich 1972 in die Buchhandlung kam, lernte ich meine Chefin als eine zierliche
Dame von starker Präsenz kennen, der immer noch das Rheinische anzuhören war
– übrigens versäumte sie nie, am 11.11. jeden Jahres irgendwann leise etwas von
»Jeckentag« vor sich hinzumurmeln. In den Jahren, die ich sie noch erlebte, nahm
sie niemals Urlaub, was sie allerdings auch vorher schon lange nicht mehr getan
hatte. Der einzige Luxus, den sie sich leistete, war das tägliche Mittagessen mit
ihrem Mann, der selbst ein Antiquariat betrieb, im Bristol, einem feudalen
Restaurant am Kurfürstendamm. Sie war jeden Tag in der Buchhandlung, immer
präsent, häufig noch selbst Kunden beratend, auch den Einkauf bei den
Verlagsvertretern machte sie weitgehend selbst. Gegen Ladenschluß kam
unweigerlich ihr Ausspruch »Mitternacht zog näher schon«, worauf sie sich ein
Glas Wein und – ich glaube – auch eine Zigarette gönnte. Die Arbeit ging allerdings
noch ein wenig weiter, abends wurden z.B. häufig noch Verlagsvertreter
angerufen, um Aufträge durchzugeben. (Die Bestellungen der Bibliotheken und
Universitäten hatten noch einen ganz anderen Umfang als heute).
Ihr Verhältnis zu ihren Kunden war eine wohlausgewogene Mischung aus
Zurückhaltung, Charme und Zugewandtheit. Unstrittig war für sie immer, daß die
Kunden im Mittelpunkt zu stehen hätten. Auch wenn das bedeuten konnte, daß ein
Kunde, der zwar häufig kam, es aber mit dem Bezahlen nicht so genau nahm,
trotzdem immer ein »lieber« Kunde blieb. Aber die wirtschaftliche
Betrachtungsweise kam für sie ohnehin nicht an erster Stelle. Ihre Nähe zu
Büchern war bis in kleinste Details spürbar, oder wie soll man es nennen, wenn
jemand von einem Schutzumschlag als dem Kleid des Buches spricht, wenn es
nicht sogar ein Haus besaß, nämlich einen Schuber.
Sie las bis in die Nacht und legte oft schon einem Kunden am nächsten Tag sehr
vehement das Buch ans Herz, das sie in der Nacht gelesen hatte. So verblüffend
und überraschend sie häufig urteilte, ob über Bücher, Menschen oder politische
Ereignisse, so entschieden äußerte sie sich auch. Daß das Wort »verbindlich« in
ihrem Wortschatz einen großen Platz einnahm, kam sicher nicht von ungefähr. Wie
einprägsam ihre oft originellen Redewendungen waren, kann ich an mir selbst am
besten feststellen. So manches ist auch so viele Jahre nach ihrem Tod noch sehr
lebendig. Ich habe sie nicht als altersweise, abgeklärte Person erlebt, für mich war
sie impulsiv, überraschend, bisweilen ungerecht, durchaus auch offen für Dinge,
die ihr zunächst einmal nicht so lagen, oft komisch und sehr zutreffend in ihrem
Urteil, vor allem aber mit Leib und Seele ihrem Beruf verfallen.
Was letzteres betrifft, ist sie natürlich immer noch Vorbildfigur für die heute
bestehende Marga Schoeller Bücherstube, kein leichtes Unterfangen bei den sehr
veränderten Strukturen in unserer Branche. Aber interessante und wichtige
Bücher in einer möglichst persönlichen Atmosphäre mit Lesern
zusammenzubringen, und dabei selbst neugierig zu bleiben, das ist Marga
Schoellers Ziel gewesen, das auch wir nicht aus den Augen verlieren wollen.
Ruth Klinkenberg

(Dieser Text erschien in: Wegner, Bärbel. Die Freundinnen der Bücher. Buchhändlerinnen.
Ulrike Helmer Verlag. Sulzbach, 2001. 978-3-89741-033-6)